Do. Jun 8th, 2023

Monsieur Berger, die Stimmung in Frankreich ist explosiv, der Präsident stellt sich stur. Können Sie uns erklären, wie es zu diesen verhärteten Fronten kam?

LAURENT BERGER: Was in diesen Protesten vor allem zum Ausdruck kommt, ist der Wunsch nach Anerkennung und Respekt für die Arbeit. Der Präsident hat sich nicht klargemacht, dass wir gerade eine Pandemie hinter uns haben. Sie hat die Arbeit verändert und das Verhältnis zur Arbeit durchgerüttelt. Vor allem für diejenigen Arbeitnehmer, die auch während der Lockdowns im Gesundheitswesen, in der Pflege oder im Verkauf weitergearbeitet haben, gab es keine Anerkennung. Im Gegenteil. Sie sind jetzt die Zielgruppe der Pensionsreform. Der Konflikt ist dabei, sich in eine demokratische Krise zu verwandeln.

Wie könnte die Lösung aus dieser Pattsituation aussehen?

Nach dem Einsatz des Verfassungsartikels 49.3 vor zehn Tagen, mit dem Macron die Reform ohne Abstimmung im Parlament durchgedrückt hat, ist der Notausgang nicht mehr in Sicht. Seither schließen sich immer mehr junge Menschen den Protesten an. Ich sehe nur einen einzigen Ausweg: Macron muss auf die Pausetaste drücken, das Gesetz vorübergehend aussetzen und das Gespräch suchen.

Das Vorhaben Macrons, das Pensionsalter um zwei Jahre auf 64 anzuheben, stößt auf heftigen Widerstand. Aber die anderen Europäer haben sich diesem Zwang bereits gebeugt und die Pensionsaltersgrenze angehoben. Aus Sicht der Österreicher ist der Widerstand schwer nachvollziehbar.

Wenn Sie Frankreich vergleichen, dann bitte mit dem einzig gültigen Kriterium: dem effektiven Pensionseintrittsalter. Es wird immer so getan, als gingen die Franzosen alle mit 62 in Pension. Nicht berücksichtigt wird, dass es zwei Altersgrenzen in Frankreich gibt: Ab 62 kann man seine Rente beantragen, aber unter Umständen muss man bis 67 arbeiten, um eine abschlagsfreie Pension zu bekommen. Gerade in meiner Generation, die mit hoher Arbeitslosigkeit konfrontiert war, sind die Berufskarrieren zerlöchert. Deswegen liegt das effektive Pensionseintrittsalter bei über 63 Jahren. Die Experten sagen voraus, dass es sich weiter erhöht. Wenn Sie schon beim Vergleichen sind, dann bitte richtig: In diesem Land ist mir nicht ein einziges Mal von irgendeiner Regierung vorgeschlagen worden, eine österreichische oder deutsche Kompromisskultur aufzubauen. Seit sechs Jahren haben wir keine Verhandlung zwischen Regierung und Gewerkschaften gehabt, um Kompromisse auszuhandeln.

Sind Sie bereit, über die Altersgrenze von 64 zu reden? Sie haben früher selbst für längere Lebensarbeitszeiten plädiert.

Die verlängern sich automatisch durch die Anhebung der Einzahlungsdauer. Seit 2003 ist die Zahl der Jahre, die ein Staatsbediensteter einzahlen muss, von 37,5 auf 43 Jahre angestiegen. Es ist schlicht falsch, zu behaupten, dass keine Anstrengungen unternommen wurden. Wir haben immer klar gesagt: Die Altersgrenze ist das dümmste aller Kriterien, es ist ungerecht und unpraktikabel, denn es geht doch bei einem System der Umverteilung darum, wie viele Jahre ich der Gesellschaft schuldig bin. Jetzt will man ein System schaffen, bei dem alle im gleichen Alter in Pension gehen, was faktisch nicht der Fall ist.

Die Reform wurde von der Regierung als „gerecht“ verkauft, warum bezeichnen Sie sie als ungerecht?

Sie ist ungerecht, weil die Anstrengungen nur von mittleren Angestellten verlangt wird. Weil sie von den Frauen mehr Anstrengungen verlangt als von den Männern. Weil sie keines der komplexen Probleme löst. Sie ist vor allem ungerecht, weil die Arbeitgeber keinerlei Beitrag leisten müssten. Sie werden nicht einmal gezwungen, Senioren länger anzustellen. Kurz gesagt: Die Anstrengungen lasten auf den Schultern weniger.

Befürchten Sie nicht, dass die Proteste völlig aus dem Ruder laufen könnten?

Ich verurteile jegliche Form von Gewalt aufs Schärfste, Gewalt gegen Personen wie auch Sachbeschädigung. Seit Beginn der Proteste ist es den Gewerkschaften gelungen, für friedliche Demonstrationen zu sorgen. Die Gewalt geht nicht von uns aus.

Aber jetzt könnten Sie die Kontrolle verlieren und die Gelbwestenproteste haben gezeigt, dass sich Gewalttätigkeit auszahlt.

Das ist ein Problem. Auf dem Höhepunkt der Gelbwestenkrise waren 284.000 Menschen auf der Straße, es wurden 13 Milliarden Euro lockergemacht. Auf 1,2 Millionen friedliche Demonstranten hat der Präsident aber nicht geantwortet. Ich bedauere, dass er sich mehr von der Gewalt beeindrucken lässt als von friedlichem Protest.

Die Einzige, die derzeit vom Rentenfiasko profitiert, ist Marine Le Pen. Wird ihr der rote Teppich in den Élysée ausgerollt?

Ich fürchte, die Rakete ist bereits gestartet. Jetzt müssen wir verhindern, dass sie auf ihre Umlaufbahn kommt. Wir müssen uns kollektiv zusammenreißen. Marine Le Pen interessiert sich nicht für die soziale Frage oder für Pensionen. Aber sie wird diese beiden Hebel benutzen, um an die Macht zu kommen. Andere Länder haben uns vorgeführt, dass Misstrauen gegen politische Institutionen und soziales Ressentiment Treibstoffe sind, die Rechtsextreme an die Macht bringen.

Von Halkoaho

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